Stillmythen und ihre Folgen
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Ist das Baby geboren, geht es aber mit „guten Ratschlägen“ weiter. Einige Stillmythen kursieren so hartnäckig, dass es schwierig ist, richtig von falsch zu unterscheiden und das hat meist spürbare Folgen für Mama und Baby.
Welche Auswirkungen kann ein vermeintlich gut gemeinter Ratschlag auf die Stillbeziehung haben?
Nehmen wir an, eine frischgebackene Mama hört oder liest „Du darfst das Baby nur alle 3 Stunden füttern, sonst bekommt es Bauchweh“, dann löst das etwas in ihr aus. Denn welche Mama will nicht das Beste für ihr Kind? Natürlich nehmen sich Mütter solche Ratschläge zu Herzen, um dem Baby diese Schmerzen ersparen. Also hält sie sich vielleicht daran, ohne zu wissen, dass dieser Mythos auf der Annahme basiert, dass frische Milch im Magen auf angedaute Milch trifft, was angeblich Bauchweh auslöst. Wenn man es nicht besser weiß, klingt dies durchaus plausibel. Doch wenn man etwas genauer hinsieht und recherchiert, ist dieser Ratschlag mehr als fragwürdig.
Denn Fakt ist:
- Die Theorie mit der angedauten und frischen Milch ist nicht wissenschaftlich belegt. Muttermilch hat eine optimale Bioverfügbarkeit, d.h. alle Inhaltsstoffe können vom Körper optimal aufgenommen werden und Muttermilch ist – je nach getrunkener Menge – in 45-90 Minuten verdaut. Und selbst wenn sie länger im Magen verbleiben würde, bekäme das Baby keine Bauchschmerzen davon.
- Das Baby braucht gerade anfangs viel öfter Milch. Es muss die Möglichkeit haben, nach Bedarf zu stillen, um die Milchmenge für den nächsten Tag zu bestellen: Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Häufige Stillmahlzeiten begünstigen die Prolaktin-Ausschüttung, wodurch schon nach 8-16 Stunden mehr Milch produziert wird.
- Babies stillen nicht nur, wenn sie hungrig sind. Sie stillen an der Brust auch ihr Bedürfnis nach beispielsweise Nähe, Trost, Geborgenheit, Entspannung, Schlaf und Sicherheit.
Viele Ratschläge sind nicht nur falsch, sie können auch weitreichende Folgen für Mutter und Kind haben. Oft ist einem das gar nicht bewusst, deshalb will ich die Auswirkungen einmal etwas ausführlicher aufzeigen. Gehen wir also davon aus, die Mama hat den Rat bekommen, nur alle 3 Stunden zu füttern, klingt das erstmal harmlos.
Aber:
- Wer Stillen nach Bedarf unterbindet und sich an den 3-Stunden-Zeitplan hält, wird mit Sicherheit bald ein hungriges, verzweifeltes Baby im Arm halten.
- Das Baby ist beim nächsten Anlegen sehr hungrig und ungeduldig, es erfasst dadurch vermutlich die Brust nicht gut, was Schmerzen und wunde Brustwarzen bei der Mutter verursachen kann.
- Durch schlechtes Anlegen wird oft die Brust nicht gut genug entleert, was einen Milchstau zur Folge haben kann.
- Zudem wird durch die mangelnde Entleerung die Milchproduktion nicht ausreichend angekurbelt.
- Wenn das Baby nicht stillen darf, wann und so lange es möchte, ist es nicht nur hungrig, es hat auch nicht die Möglichkeit, die Milchmenge zu regulieren. Es wird aufgrund mangelnder Nachfrage weniger Milch produziert als das Baby eigentlich benötigt.
- Das Baby wird nicht satt und es muss zugefüttert werden.
- Meist geschieht das Zufüttern mit einem Fläschchen, was beim Baby zu einer Saugverwirrung führen kann. Das Saugschema der Flasche wird an der Brust fortgesetzt, wo es aber ineffektiv ist und wiederum Milchstau und mangelnde Milchbildung zur Folge haben kann. Ein Teufelskreis entsteht.
- Eine Saugverwirrung kann im schlimmsten Fall zur Folge haben, dass das Baby nicht mehr an die Brust will, da es sich an die Flasche gewöhnt.
- Wenn die Mutter sich aber gegen den 3-Stunden-Ratschlag entscheidet und auf ihr Gefühl hört, ein weinendes Baby anzulegen statt es schreien zu lassen, hat sie zwar richtig gehandelt, aber womöglich ein schlechtes Gewissen und Angst, ihr Baby könnte nun ihretwegen Bauchweh bekommen. Sie ist gestresst und verunsichert, ob sie das Richtige tut.
- Angst, Stress, Trauer und Müdigkeit können die Oxytocinausschüttung stören. Oxytocin ist das Wehen-, Kuschel- und Bindungshormon. Es ist für das wichtige Bonding sowie den Milchspendereflex zuständig.
- Ist der Milchspendereflex gestört, kann dies zu Milchstaus sowie Frust beim Baby führen, da der Milchfluss gehemmt ist.
Eine zeitliche Vorgabe kann die Stillbeziehung auf jeden Fall gehörig ins Wanken bringen. Die Ursache für Stillprobleme liegt oft in kleinen Dingen – falsche „Tipps“ aus dem sozialen Umfeld oder Stress. Es reicht manchmal schon, wenn Besuch da war, der ein paar gut gemeinte Ratschläge mitgebracht hat. Im Grunde genommen genügt schon die Frage „Stillst du etwa immer noch/schon wieder?“, um möglicherweise Zweifel in der Frau auszulösen und die Stillbeziehung somit negativ zu beeinflussen. Vor allem frische Stillbeziehungen sind sehr sensibel und störanfällig für äußere Einflüsse und Stimmen.
Ein Schweizer Spital meldete im Januar 2021, dass es die Corona-Besuchs-Regeln dauerhaft einführen will.
Warum?
Durch das Besuchsverbot in Krankenhäusern aufgrund der Corona-Pandemie wurden signifikant weniger Stillprobleme verzeichnet. Die Mütter waren mit ihrem Baby alleine – nur der Papa durfte zu Besuch kommen. Niemand störte die junge Familie...
Zur Kategorie der Stillmythen oder Milchmärchen gehören auch folgende Aussagen, mit denen sicherlich jede Stillmama schon konfrontiert war:
„Er/sie benutzt dich nur als Schnuller-Ersatz.“
„Wenn die ersten Zähnchen kommen, muss man abstillen.“
„Nach einem Jahr enthält die Milch zu viele Schadstoffe.“
„Mit kleinen Brüsten kann man nicht stillen.“
„Wenn du dein Baby abends ein Fläschchen gibst, schläft es besser.“
„Im Sommer, wenn es heiß ist, wird die Milch sauer.“
„Du darfst nur alle 4 Stunden anlegen, damit sich das Baby an einen Rhythmus gewöhnt.“
„Nach 6 Monaten wird deine Milch dünn.“
„Dauernuckeln ist ein Zeichen dafür, dass du zu wenig Milch hast.“
„Du darfst sie/ihn nicht so oft anlegen, du verwöhnst sie/ihn sonst nur.“
„Still doch endlich ab, damit du mal wieder Schlaf bekommst.“
„Ab 6 Monaten braucht Dein Baby nachts keine Milch mehr.“
„Mit 4 Monaten müssen Stillmahlzeiten durch Brei ersetzt werden.“
„Du darfst XY nicht essen, sonst bekommt das Baby Bauchweh.“
„Vom Stillen bekommt man Hängebrüste.“
„Stillen tut weh.“
Leider kann ich im Rahmen dieses Artikels nicht auf jede Aussage einzeln eingehen. Aber all diese Stillmythen haben etwas gemeinsam und ich möchte dies in aller Deutlichkeit betonen: SIE. SIND. FALSCH. Jeder einzelne ist nur ein Mythos!
Und jeder dieser „Tipps“ suggeriert der Frau, sie würde etwas falsch machen, oder ihre Milch würde zu irgendeinem Zeitpunkt nicht genügen und sie müsse daher abstillen oder wenigstens zufüttern. Sie schüren Ängste und Verunsicherung.
Diese Aussagen basieren aber auf keiner wissenschaftlichen Grundlage, und wenn, ist diese veraltet und inzwischen widerlegt. Es sind Beobachtungen und Erfahrungen einzelner Personen, aber sie sind entweder Zufall, oder nur ein Bruchteil der ganzen Wahrheit. Wenn Tante Petunia erzählt, sie „hatte auch nach 6 Monaten keine Milch mehr“, kann man ja sie mal vorsichtig fragen, ob sie nach Bedarf gestillt hat und ob das Baby vielleicht einen Fremdsauger bekommen hat.
Die zweite große Kategorie der Stillmythen betrifft Mamas Speiseplan.
„Wenn Du Kohl/Zwiebeln/Knoblauch/Hülsenfrüchte isst, bekommt das Baby Bauchweh.“
„Du darfst keine Zitrusfrüchte essen, sonst bekommt das Baby einen wunden Popo.“
„Iss bloß keine Erdbeeren! Die Kerne verstopfen die Milchgänge.“
Wenn man sich an alle „Empfehlungen“ halten würde, sähe Mamas Speiseplan sehr mager aus. Doch gerade Hülsenfrüchte und Gemüse enthalten wertvolle Nährstoffe, die die Mama benötigt. Eine Stillmama braucht pro Tag rund 500 Kalorien zusätzlich.
Es ist weder wissenschaftlich erwiesen, dass Mamas Essen beim Baby Blähungen verursacht, noch, dass bestimmte Lebensmittel zu Allergien oder wundem Babypopo führen, geschweige denn die Milchgänge verstopfen. Lediglich der Geschmack der Muttermilch wird vom Gegessenen beeinflusst. Durch Zwiebeln oder Knoblauch wird die Milch beispielsweise süß. Grundsätzlich darf aber erstmal alles gegessen werden. ALLES! Und sollte doch mal ein Zusammenhang vermutet werden zwischen Mamas Ernährung und Babys Bauchweh, können vorübergehend einzelne Lebensmittel weggelassen werden, um zu sehen, ob dies der Auslöser war. Aber es muss nicht pauschal auf bestimmte Lebensmittel verzichtet werden. Meist ist es nämlich Zufall, dass das Baby ausgerechnet dann Bauchweh bekommt, wenn die Mama Döner gegessen hat.
Ich wünsche mir, dass wir stillende Frauen schützen. Dass wir uns zurücknehmen. Ich wünsche mir, dass wir feinfühlig und mit Bedacht mit frischgebackenen Mamas sprechen. Dass wir sie in ihrer Fähigkeit, zu stillen, bestärken. Ich wünsche mir, dass wir hinterfragen und uns gut informieren. Dass wir nicht alles nachplappern, was wir hören. Ich wünsche mir, dass vor allem Fachpersonal sich fortlaufend weiterbildet um immer auf dem neusten Stand der Wissenschaft zu sein. Und am meisten wünsche ich mir, dass Stillmamas Wissen haben. Fundiertes Wissen, mit dem sie stark und selbstbewusst in ihre Stillbeziehung gehen und diese gestalten können, ohne sich von den vielen Stimmen von außen beeinflussen zu lassen.
„Wenn Wissen Macht ist, ist Nichtwissen Ohnmacht.“ (Sprichwort)
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